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Erklären, was ist, beschreiben, was war, und Kinder zum

Gebrauch ihres eigenen Verstandes anleiten - das ist gut.



1 Kaspanaze

Diese Geschichte erzählt von einer Zeit, die etwa 150 Jahre zurück liegt. Sie berichtet von Kindern, die von ihren Eltern ins Schwabenland geschickt wurden, um dort als Helfer in Haus und Hof ein wenig Geld zu verdienen. Über eines dieser Kinder hat der Schriftsteller Elmar Bereuter einen Roman geschrieben. 


Der Junge heißt eigentlich Kaspar Ignaz, aber alle nennen ihn Kaspanaze. Er ist 9 Jahre alt. Er lebt mit seinen Eltern, dem Großvater und seiner jüngeren Schwester auf einem kleinen Bauernhof im Bregenzerwald. 


Ihr Dorf liegt in Vorarlberg, dem westlichsten Bundesland Österreichs. Die Familie besitzt zwei Kühe und eine Sau, deren Ferkel sie mästen. Eines Tages wird die Sau krank und muss notgeschlachtet werden. Weil sie sich keine neue Sau leisten können, beschließen die Eltern, Kaspanaze ins Schwabenland zu schicken, damit er etwas Geld verdient. Schwaben liegt heute zum größten Teil in Baden-Württemberg, ein kleinerer Teil in Bayern. 

Diese Kinder kamen aus Graubünden (Schweiz) ins Schwabenland - Bild: PD

2 Schwabenkinder 

So wie Kaspanaze ergeht es vielen Kindern in der damaligen Zeit. Sie leben in Graubünden, im Montafon, in Tirol und einigen anderen Gebieten in der Schweiz, in Liechtenstein und Österreich. Einige kommen sogar aus Südtirol. Die Familien der Kinder sind sehr arm. Sie ernähren sich vom Ertrag ihrer kleinen Bauernhöfe. 


Arbeitsplätze in der Industrie oder im Tourismus gibt es nicht. Die Arbeit der Bauern ist schwer, alles muss in Handarbeit erledigt werden. Die Hänge der Berge sind steil, die Winter sind lang und bringen viel Schnee mit sich. Immer wieder kommt es vor, dass die Nahrung nicht ausreicht und die Menschen Hunger leiden.


In Schwaben hingegen sind die Bauernhöfe größer. Man arbeitet mit Zugtieren, das Land ist flacher und besser zu bearbeiten. Vor allem bringt es mehr Ertrag. Es ist auch hier üblich, dass Kinder ab dem Alter von etwa sechs Jahren mitarbeiten. Sie hüten Gänse, Rinder und Kühe, sie misten die Ställe aus und helfen bei der Ernte. Aber schon seit Jahrhunderten stellen die Bauern in Schwaben Kinder aus den Alpenregionen an. Sie sind viel billiger als erwachsene Knechte und Mägde. 


Ende Februar bis Mitte März machen sich diese „Schwabenkinder“ auf den Weg und sie kehren im Oktober oder November zurück. Sie bekommen für die Arbeit von mehreren Monaten einen geringen Lohn und ein „doppeltes Häs“, eine Kleidung für sonntags und eine für den Alltag, manchmal auch ein paar Schuhe aus Leder.


Sie bekommen eine Unterkunft und zu essen. So müssen sie von ihren Familien daheim nicht mehr versorgt werden. Manchen geht es in der Fremde besser als zu Hause, andere jedoch sind schlecht untergebracht, sie bekommen kaum satt zu essen und werden oft streng bestraft oder sogar misshandelt. Fast alle leiden unter Heimweh.

Das Montafon ist eine sehr schöne Landschaft, doch vor 150 Jahren herrschte bittere Armut. - Bild: Hamsterkiste

3 Der Weg ins Schwabenland

Mitte März machen sich Kaspanaze und 18 andere Kinder auf den Weg nach Ravensburg zum Kindermarkt. Das jüngste ist sechs Jahre, die ältesten sind vierzehn Jahre alt. Die Gruppe wird angeführt von einem Mann, der im Krieg ein Bein verloren hat und sich mit einem Holzbein und Krücken fortbewegt. In den Wochen vor dem Auszug wird in der Kirche des Ortes ein wenig Geld gesammelt, um unterwegs in billigen Unterkünften übernachten zu können und eine Mahlzeit zu bekommen.


Das Ziel der Gruppe ist die Stadt Ravensburg, die etwa 70 Kilometer entfernt liegt. Die Kinder und ihr Anführer gehen zu Fuß, einige trotz der Kälte barfuß, andere in Holzschuhen oder in mehrfach geflicktem Schuhwerk. Man wandert entlang der Flüsse, die Wege sind oft steil und schmal, im Frühjahr vielfach matschig, denn der Schnee schmilzt. 


Es dauert fünf Tage, bis die Gruppe Ravensburg erreicht. Die erste Nacht verbringt sie in einem Heustadel, die zweite in einem Gasthof, die dritte in einem Kloster. Dann überqueren sie die Grenze, übernachten auf einem Bauernhof und kommen schließlich in Ravensburg an.


Kinder aus Graubünden sind oft eine ganze Woche unterwegs, die aus Tirol und aus Südtirol manchmal mehrere Wochen. Manche Gruppen müssen hohe Pässe überwinden. Die Kälte und das schlechte Schuhwerk führen zu Erfrierungen. 


Eigentlich müssten die Kinder zur Schule gehen. Aber in ihrer Heimat werden die Schwabenkinder von der Schule befreit, im Königreich Württemberg gibt es zwar seit 1836 eine Schulpflicht, aber sie gilt nicht für Kinder aus dem Ausland. 

Es gab keine festen Straßen, Pfade entlang der Flüsse und viel Schnee im Winter - Bild: Hamsterkiste

4 Auf dem Kindermarkt

Kindermärkte werden alljährlich in Ravensburg, Friedrichhafen und Kempten abgehalten, manchmal auch in Wangen, Weingarten, Tettnang und Bad Waldsee. Sie finden meistens um den 19. März herum statt, dem Namenstag des Heiligen Joseph. 

Nach dem Bericht einer amerikanischen Zeitung werden allein in Ravensburg jährlich etwa 300 bis 400 Kinder angeboten. Auf dem Markt werden die Kinder von Bauern, Händlern oder anderen Personen begutachtet. Der Anführer der Gruppe handelt einen Preis aus und die Kinder gehen mit ihren neuen Herren. Manche kommen mehrere Jahre hintereinander und werden bereits erwartet. 


Einige haben jedoch schlechte Erfahrungen gemacht. Sie versuchen, ihren früheren Dienstherren einen Kreidestrich auf den Rücken zu machen. So sollen andere Kinder gewarnt werden. 

Auf dem Kindermarkt in Ravensburg - Bild: PD

5 Beim Bauern Gabstetter

Kaspanaze wird von einem Bauern gemietet. Zu spät entdeckt er, dass dieser Mann einen Kreidestrich auf dem Rücken trägt. Der Bauer geht zunächst in einen Gasthof. Völlig betrunken lässt er am Abend sein Pferd und das verängstigte Kind den Weg nach Hause finden.


Kaspanaze bekommt einen Schlafplatz im Heu zugewiesen. Sofort werden ihm Arbeiten aufgetragen. Er muss beim Melken helfen, den Stall ausmisten, die Kühe auf der Weide hüten und bei der Heuernte schwer arbeiten. Sein Arbeitstag beginnt in der Früh und dauert bis zum späten Abend, feste Arbeitszeiten gibt es nicht. 


Er bekommt nur wenig zu essen und fast täglich Schelte und Schläge vom Bauern und seiner Ehefrau. Manchmal ist ihm beim Hüten der Kühe so kalt, dass er seine bloßen Füße in frischen, warmen Kuhfladen wärmt. 


Am Sonntag gehen alle in die Kirche. Dort trifft er Kinder aus der Gruppe, mit der er nach Schwaben gekommen ist. Das ist ein kleiner Trost in seiner Einsamkeit. 


Eines Tages wird er vom Bauern aus einem nichtigen Anlass im Brunnen des Hofes immer wieder unter Wasser getaucht. Nur der Knecht Vinzenz rettet ihn. Da beschließt Kaspanaze zu fliehen. 

Die Kinder arbeiteten im Stall und hüteten das Vieh auf der Weide, wie auch die Hütekinder im Schwarzwald - Bild: Vogtsbauernhof.de

6 Die Flucht

Als es dunkel geworden war, verlässt er den Hof. Stundenlang läuft er durch die Nacht, ohne zu wissen, wo er ist und wohin der Weg führt. Irgendwann legt er sich unter einen Baum und schläft sofort ein. Da stürmt plötzlich eine Rotte Wildschweine heran und Kaspanaze kann sich gerade noch auf einen Baum retten.


Am nächsten Tag erblickt er in der Ferne den Bodensee. Völlig ausgehungert bittet er auf einem Bauernhof um ein Stück Brot. Die Bäuerin ist freundlich zu ihm, sie gibt ihm zu essen. Da sie auf diesem Hof gerade eine Hilfskraft brauchen, bleibt Kaspanaze, da er nicht weiß, wohin er sonst gehen soll.

Zwei Hütejungen bei der Arbeit - Bild: Bregenzerwald Archiv

7 Beim Bauern Gründinger

Hier wird er viel besser behandelt als bei seinem vorherigen Dienstherrn. Er bekommt eine Kammer mit einem richtigen Bett, in dem er schlafen und mit einem Schrank, in dem er seine Habseligkeiten aufbewahren kann.


Auch auf diesem Hof, dem Gründingerhof, muss er von früh bis spät schwer arbeiten, bei der Ernte des Heus, des Hopfens und der Äpfel, beim Melken, beim Transport der Milch zur Sennerei und beim Ausmisten des Stalles. Aber er bekommt reichlich zu essen und er wird nicht mehr geschlagen und beschimpft. 


Weil gerade ein Mäuseplage herrscht, fängt er Mäuse und schneidet ihnen den Schwanz ab. Für jede tote Maus bekommt er einen kleinen Geldbetrag. Er spart und kauft sich kurz vor der Heimreise sein erstes eigenes Buch, obwohl er noch gar nicht richtig lesen kann.


Ende Oktober werden Kaspanaze und die anderen Kinder, die im Frühling nach Schwaben gezogen waren von dem Mann, der sie begleitet hatte, wieder abgeholt. Jedes Kind hat ein „doppeltes Häs“ bekommen, der vereinbarte Lohn wird ihrem Begleiter ausgehändigt. Das Geld wird ihren Familien daheim helfen, ein wenig besser durch den Winter zu kommen.  Kaspanaze und die meisten anderen „Schwabenkinder“ werden sich im nächsten Frühjahr wieder aufmachen, um in der Fremde zu arbeiten. 


Viele Jahre später wird schließlich in Württemberg auch für ausländische Kinder die Schulpflicht eingeführt. Da lohnt es sich für die Bauern nicht mehr, Kinder aus der Schweiz und Österreich anzuwerben.  Doch es wird noch bis ungefähr 1940 dauern, bis keine Kinder mehr ins Schwabenland geschickt werden.

Eine Schwabenkinder haben als Erwachsene ihre Erinnerungen aufgeschrieben, hier Regina Lampert. - (PD)

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